Ich sitze am Schreibtisch und lese einen Kommentar. Vor einigen Tagen hatte ich gepostet, dass die Linde blüht und wir somit Hochsommer haben. Im Kommentar kommt der Einwand, dass jetzt im Juni zwar die Linde blühe, aber der Hochsommer doch eigentlich erst im August begänne. Es ist der Kommentar eines Hexenaccounts. Und ich merke wie mich das irritiert – und stelle fest: Wir haben einfach verschiedene Ansätze.
Für mich beginnt der Hochsommer genau jetzt. Nicht, weil das im Kalender steht. Für mich beginnt der Hochsommer jetzt, weil die Linde duftet. Weil meine Haut nach Sonne riecht und meine Gedanken träge* werden. Und eine Melodie summt durch meinen Kopf:
„Über Nacht kamen die Vögel und bildeten einen Verein.
Der verzieht sich bald ans Mittelmeer und läßt uns im Regen allein.“ von Element Of Crime.
Das Gefühl kenne ich von früher: Es ist vorbei – was immer es auch gewesen sein könnte. Das hatte was mit Sommerferien und Schule und Semester zu tun. Jetzt ist das irgendwie anders. Ich erlebe die Jahreszeiten viel intensiver, seit ich bewusst mit dem phänologischen Kalender arbeite.
Wie melancholisch will ich es haben?
Der phänologische Kalender kennt keine festgelegten Monate. Dafür kennt er Zeichen: Holunderblüte = Frühsommer. Lindenblüte = Hochsommer. Das fühlt sich für mich stimmig an. Es ist eine Sprache, die ich verstehe. Eine, die nicht auf Papier geschrieben ist, sondern auf Blättern, in Blüten, im Wind. Dort, wo ich mich zuhause fühle.
Ich habe keine Lust mehr, auf den offiziellen Sommeranfang zu warten oder die Tage bis zum Frühlingsanfang runter zu zählen, während draußen längst alles lebt. Dieses Jahr bin ich wieder dabei.
Und das Lied? Es schwingt in mir mit seinem zarten Walzerschwung.
Ein Hoch auf das Lied – und auf FOMO
Es ist ein Lied über das Gefühl, etwas verpasst zu haben und doch intensiv leben zu wollen. Dazu braucht es keine große Inszenierung – der Text ist schlicht, die Musik schwingt im 3/4-Takt. Es beschreibt sehr genau den Moment, in dem einem auffällt, dass etwas vorbei ist, ohne dass man es mitbekommen hat
Dabei geht es um verstrichene Chancen, um das Gefühl, nicht wirklich dagewesen zu sein. Genau das, was wir heute als FOMO kennen – aber nicht durch Social Media erzeugt, sondern durch das eigene Abgelenktsein im Alltag. Das Lied benennt diese kleine Ohnmacht, wenn man sich fragt: Wieso habe ich das nicht gespürt, als es passiert ist? Und warum war ich gedanklich immer woanders?
Ich habe „Über Nacht“ zum ersten Mal live gehört – im September 2007 im Exhaus in Trier. Es war spät, warm, Septembersommer. Die Band spielte draußen auf dem Hof – so viele Menschen in so einer kleinen Stadt, versammelt im Exhaus. Ich war da und habe es nicht verpasst.

- Titel: Über Nacht Künstler: Element of Crime
- Album: Lieblingsfarben und Tiere
- Veröffentlicht: 26. September 2014
- Label: Universal / Vertigo Berlin
- Genre: Indie / Liedermacher / Rock
- Länge: 4:39 Minuten
- Komposition: Sven Regener, Jakob Ilja Text: Sven Regener
- Besonderheit: Melancholisches Lied über den verpassten Sommer
👉 „Über Nacht“ auf Spotify anhören
Lyrics – ‚Über Nacht‘ von Element Of Crime
Über Nacht kamen die Wolken
und ich hab’s nicht mal gemerkt.
Schon sind am ersten Straßenbaum die ersten Blätter verfärbt.
Ich will immer so viel erleben
und verschlafe doch nur die Zeit.
Und kaum, dass ich einmal nicht müde bin,
ist der Sommer schon wieder vorbei.
Über Nacht kamen die Vögel
und bildeten einen Verein.
Der verzieht sich bald ans Mittelmeer
und lässt uns im Regen allein.
Ich will immer so gern berauscht sein
und werde doch immer nur breit.
Und kaum, dass ich einmal nüchtern bin,
ist der Sommer schon wieder vorbei.
Über Nacht kam die Erinnerung
an längst vergangenes Glück.
Und voller Wehmut stell ich mir
die Uhr eine Stunde zurück.
Ich will Dich so gerne vergessen
und bin dazu doch nicht bereit.
Und kaum, dass ich Dich einmal wiederseh’,
ist der Sommer schon wieder vorbei.
*Nein, mein Kopf war nicht träge wegen des einsetzenden Sommers – sonder wegen der aktiven, noch nicht bekannten Borreliose! Siehe Borreliose 2.0.