Wiedersehen nach 2×15 Jahren

„Guten Morgen 🌞
Frau Rudolph darf ich Gunhild sagen? …“

Normalerweise werde ich bei solchen Nachrichten sofort misstrauisch. Der Einstieg klingt wie ein klassischer Spam-Versuchs: So tun, als würde man sich kennen, gleich Nähe aufbauen, irgendwo einen Link verstecken.

Nur: Diese Nachricht ist keine Spam-Nachricht.

„Mit dir habe ich dann zu 4 Klassenkameraden Kontakt aus der Grundschule (Name der Schule)“

Und auf einmal ruckelt es in meinem Gedächtnis. Vor 15 Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen. Davor 15 Jahre gar nicht. Das letzte Mal wirklich bewusst: Grundschule bis zur vierten Klasse. Vor 15 Jahre hat uns der Zufall auf der Straße zusammengeschickt, sie noch ohne Kinder, ich mit Kinderwagen. Gibt es Zufälle?

Wir schreiben hin und her, wir verpassen uns, während ich im Wald arbeite und du deine Kinder organisierst. Mittlerweile sind es zwei. Natürlich. Die Zeit bleibt ja nicht stehen, nur weil wir den Kontakt verloren haben.

So hat alles (wieder) angefangen

Ein Städtchen bekommt ein Gesicht

Dann treffen wir uns. Du kommst auf der anderen Straßenseite entgegengelaufen, alleine, ohne Kinder. Ich steige aus dem Auto. Es gibt diese Städte, durch die man immer wieder nur durchfährt.

Von Berlin nach Mecklenburg. Berlin… Mecklenburg. Hin, zurück, wieder hin, wieder zurück. Das kleine Städtchen auf dem Weg war für mich immer nur ein Ortsschild, eine Ampel, ein Bäcker links, ein Supermarkt rechts. Weiterfahren.

Und dann stehe ich plötzlich mittendrin, suche die Adresse, die Du mir geschickt hast, fahre durch Gassen und das Städtchen bekommt ein Gesicht und unweigerlich eine Geschichte.

Du zeigst mir, wo die Kanuten zelten. Wir gehen in „Dein“ Café. Du zeigst mir, wo Du wohnst, wo Deine Schwestern wohnen, wo Deine Mutter wohnt. Zwischendurch schaust Du immer wieder aufs Handy: alles gut bei den Kindern, alles ruhig?

Ich glaube, Du gehörst zu den Kümmerern dieser Welt: Die Menschen, die innerlich mit einem Auge immer auf andere achten. Ob alle sicher sind, ob es allen gut geht.

Und dieses Städtchen, durch welches ich jahrelang vorbeigefahren bin, bekommt plötzlich ein Eigenleben: Du schenkst ihm Leben und Bedeutung.

Wenn ich jetzt dort durchfahre, weiß ich: Hier lebt ein Mensch, der mir wichtig ist. Und damit gehört dieser Ort ein kleines bisschen zu mir. So schnell kann das gehen.

4 Jahre Grundschule. 30 Jahre Pause. Und trotzdem vertraut

In Deinem Gesicht, Deiner Art zu Lachen, Deinen Erzählungen liegt die Vertrautheit von früher, diese weichen Gesichtszüge, das Lächeln in Deinen Augen. Mein Kopf sortiert innerlich alte Bilder: Schulhof, Sportplatz, Klassenraum, Lieblingslehrerin.

Was ist in der Zeit passiert, in der wir uns nicht gesehen haben? Ehrlich gesagt: alles. Und gleichzeitig nichts, was uns jetzt trennt.

Wir scrollen zusammen durch Facebook und suchen alte Namen. Du erinnerst Dich an viel mehr Leute als ich. Du weißt noch, wer in welcher Straße gewohnt hat, wer mit wem in einem Haus, wer irgendwann weggezogen ist.

Ich war damals schon weg: Neue Schule, neue Klasse, neue Welt. Unsere Lebenswege haben sich einfach auseinander gespielt. Als Kinder denkt man da gar nicht so drüber nach, oder?

Und jetzt sitzen wir da, viele Jahre später, und ich höre Dir zu.

Du erzählst von Deinem Leben, Deinen Träumen, Deiner Realität, vom Ausprobieren, Hinfallen, Aufstehen, Wiederanfangen. Allein Dein Lebensweg erzählt, wie absurd diese Welt sein kann, wenn man denkt, man sei angekommen und das Leben dann freundlich, aber bestimmt sagt: „Äh, nein. Wir drehen nochmal eine Runde.“

Raus aus Berlin, rein ins Leben

Vor meinen Augen hast Du einen riesengroßen Schritt geschafft: Du bist raus aus Berlin. Raus aus dem Anonymen, aus dem Hektischen. Du arbeitest noch in Berlin, klar, aber Du lebst außerhalb. Du hast Deine Familie um Dich herum, die Dir schon früher immer Halt war.

Vielleicht sind wir Menschen wirklich viel mehr Familien- und Systemwesen, als wir uns das zugestehen. Wir erzählen alle von Individualität, Selbstverwirklichung und „meinem Weg“, aber am Ende tut es einfach gut, wenn jemand fragt: „Kommst Du gut nach Hause?“ oder „Bist Du angekommen?“.

In Deinem Leben, so wie Du es erzählst, zerbröseln ganz leise einige Klischees:

Wie man „heute“ zu sein hat. Wie Karriere auszusehen hat. Wie Muttersein geht. Wie Frau sein bitte gefälligst zu laufen hat.Du lebst es einfach. Mit Partner, mit Kindern, mit Chaos, mit Liebe und mit Verantwortung.

Grundschule, Bundesjugendspiele und der erste Schwarm

Wir reden über die Grundschule.

Ich erinnere mich an den Sportplatz. Und daran, dass ich beim ersten Mal Bundesjugendspiele absolut keinen Plan hatte, was da passiert und warum. Ich erinnere mich an Marleen, die so unfassbar schnell laufen konnte und mich gefragt hat, wie ich so schnell laufen kann, dabei war sie viel schneller.

Wir lachen zusammen.

Ich erinnere mich an meinen ersten großen Schwarm: Marcus L. Und Du erzählst mir plötzlich, dass er in mich verknallt war. Ich sitze da, fast 42, und falle innerlich kurz vom Stuhl.

Wir lachen wieder. All die Dramen im Kopf von damals… und heute sitzen wir hier und lachen, darüber, zusammen, einfach so.

Wir reden über unsere Lieblingslehrerin. Die, die viel zu früh gegangen ist, aus unserer Klasse, vielleicht aus der Schule, vielleicht aus dem Beruf, wir wissen es nicht genau. Wir wissen nicht einmal, ob alle aus der damaligen Klasse heute noch leben. Das Leben kann so irre sein, so schnell und so fragil.

Geschenkte Zeit im Café

Wir scrollen wir durch die Fotogalerien. Smartphones sind manchmal nervig, aber in solchen Momenten einfach genial. Du zeigst mir Ausschnitte aus Deinem Leben. Ich zeige Dir ein bisschen meins.

Und dann kommt dieser völlig unerwartete Nebeneffekt:

Ich war felsenfest überzeugt, dass ich am nächsten Tag 43 werde.

Du schaust mich an und sagst: „Wir sind derselbe Jahrgang. Ich bin 42 geworden, hat nicht weh getan“

Also hat mich dieses Treffen mit Dir mal eben um ein Jahr verjüngt. Danke dafür. 😊

Freundschaft definieren wir meistens über die großen Geschichten: gemeinsam durchgemachte Nächte, Trennungen, Kinderkriegen, Umzüge, Krisen. Aber was ist mit den vier Jahren Grundschule?

Hier gab es kein Herzschmerz, keine Partynächte, keine großen Dramen (na gut, bis auf das kleine Herz-Schmerz-Drama mit Marcus L. Hat nicht jede einen Marcus L? Jung, dramatisch, unerwiedert? 😂). Wir hatten nur gemeinsam den Alltag als Kinder, den Pausenhof, Bundesjugendspiele, Klassenarbeiten, Einschulungsfotos. Und trotzdem: Da ist jetzt, Jahrzehnte später, diese Vertrautheit. Einfach so.

Kalter Hund

Vertrauensbeweis vom Leben

Jetzt sitze ich hier uns lasse unseren Abend Revue passieren und ich fühle mich ein bisschen wie ein Alien: Wir sitzen da im Café mit heißer Schokolade und Kalter Hund und suchen bei Facebook nach alten Namen.

Du selbst hast weder Facebook noch Instagram. Du willst damit nichts zu tun haben oder brauchst es einfach nicht. Du hast WhatsApp, um mit Deinen Menschen in Kontakt zu bleiben, das reicht.

Ich bin mittendrin im Digital-Kram.

Ich blogge, ich erzähle auf Instagram, ich teile Dinge aus meinem Leben. Und am nächsten Tag werde ich ziemlich sicher die 10.000 Follower flute. Menschen lesen das, was ich schreibe. Und ich frage mich, was ich überhaupt schreibe. Das sind doch Alltäglichkeiten.

Du lachst und sagst: „Ja, natürlich. Du erklärst Sachen, die so natürlich sind und über die ich trotzdem noch nie nachgedacht habe. Zum Beispiel das mit dem Laub in den Müllsäcken.“

Und ein Teil in mir denkt: Genau für Menschen wie Dich schreibe ich. Für Menschen, die aus der gleichen Ecke kommen wie ich. Berlin Wedding, Grundschule, Fußgängerzone, derselbe Kiez, dieselbe Zeit.

Unsere Leben sind komplett anders gelaufen und trotzdem verstehen wir uns.

Vielleicht ist das der Kern von dem, was ich da online mache: Dinge so erklären, dass niemand sich schlecht fühlen muss, weil er vorher nicht drüber nachgedacht hat. Sondern eher: „Ach krass, macht Sinn. Danke.“

Freundschaft

Wir bleiben vor dem Haus Deiner Mutter stehen.

Du fragst nicht, ob wir reingehen. Du willst mir Deine Kinder nicht vorstellen. Das ist völlig in Ordnung. Es bleibt ein Geschenk zwischen uns beiden, dieses Wiedersehen. Beim nächsten Mal vielleicht. Oder auch nicht.

Du fragst mich, ob ich viele Freunde habe und beantwortest die Frage gleich selber: Viele Bekannte und wenig wirkliche Freunde. Da ist ein Unterschied zwischen Freundschaft und Bekanntschaft, ist einfach so.

Vertrauen in die Zeit

Und mit diesem Treffen wächst etwas, das ich gerade als das größte Geschenk empfinde: mein Vertrauen in die Zeit.

Manchmal stehen wir mitten in Situationen, die sich riesig anfühlen: Dramatisch, schmerzhaft, existenziell. Der ganze Körper spannt sich an, der Kopf rast, jede Zelle ist Alarm. Wir müssen Entscheidungen treffen, wir quälen uns mit Gedanken, wir sehen keinen Ausgang.

Und dann vergeht Zeit.

Jahre später sitzt man sich gegenüber, erzählt sich das, was man erzählen will, und plötzlich ist alles, was dazwischen war, „erlebt“. Nicht weg, nicht gelöscht, aber eingeordnet.

Wir sind zwei Menschen, die sich mal wichtig waren, sich dann aus den Augen verloren haben, einfach so, und merken: Die Verbindung ist noch da. Vielleicht anders, vielleicht ruhiger, aber da.

Und wenn das kein Vertrauensbeweis vom Leben ist, weiß ich auch nicht.

Warum ich das aufschreibe

Manchmal habe ich mich darüber lustig gemacht, wenn meine Mutter von „Schulfreundinnen von früher“ erzählt hat. Jahrzehntelang kein Kontakt und dann plötzlich wieder Kaffee trinken, als wäre nichts gewesen. Ich habe das immer ein bisschen belächelt.

Jetzt sitze ich selbst hier, mitten in so einer Geschichte und ich merke: Das ist kein Kitsch, das ist ein Geschenk.

Dieses Wiedersehen zeigt mir, dass wir uns nicht „verloren“ haben. Unsere Wege haben sich als Kinder einfach auseinander gespielt. Wir hatten keinen Einfluss darauf. Jetzt haben wir aktiv wieder zueinander gefunden. Du hast meinen Namen gegoogelt. Ich habe geantwortet. Wir haben uns die Zeit genommen.

Und das ist vielleicht meine größte Erkenntnis aus diesem Abend: Es ist gut, wie es ist.

Teile den Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Aktuelle Beiträge

Trage Dich kostenlos für die Wald- und Wiesenpost ein, und erhalte regelmäßig die neusten Informationen.