Erinnerungen an meine Großtante und ihren Garten

Dies ist ein Abschiedsbrief an meine Großtante. Während ich ihn schreibe, merke ich, wie stark mich das Thema Endlichkeit berührt, gerade jetzt, wo ich von meiner Schwedenreise zurückkehre. Es geht um Erinnerungen und schon wieder um einen emotionalen Garten – diesen Garten hatte ich tatsächlich vergessen.

Dieser Brief geht an meine Großtante, auch wenn wir sie immer „Tante“ genannt haben.

gute Reise

Liebe Tante A. ,

nun bist Du gestorben. Ich habe ein Bild von Dir gesehen, wie Du friedlich in Deinem Bett liegst, eine Kerze am Kopfende.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie groß Dein Leid und Deine Schmerzen am Ende gewesen sind, was Du überhaupt erlebt und gespürt hast. Brustkrebs im Endstadium ist mehr, als ich begreifen oder nachfühlen kann. Auch Dein Leben kenne ich nur aus Fragmenten. Berlin und Bayern waren zu weit auseinander, und ich war fast immer bei meiner Großmutter, Deiner Schwester.

Wenn ich an Dich denk,e habe ich dieses Bild im Kopf und im Gefühl: rüstig, klar und bestimmt im Auftreten. Einwände wurden eher nicht wahrgenommen. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ambivalenz habe ich Dich erlebt. Du bist in einer Zeit groß geworden, die für mich kaum vorstellbar ist: Weltkrieg, in einem Aufbruch, in Gemeinschaft, im Glauben, mit Familie, Mann und Zusammenhalt, Zerfall. Was daraus wurde, hat die Geschichte gezeigt.

Du wolltest eine große Familie haben. Schon früh hieß es, Du wärst dafür wie geschaffen. Doch es kam anders. Erst viel später stellte sich heraus, dass es nicht an Dir lag, dass ihr keine Kinder bekommen konntet. In Deiner Zeit galt es als Schuld der Frau. Und so trugst Du eine Enttäuschung in Dir, die ich bei Dir immer gespürt habe, auch wenn ich sie nie von Dir gehört habe.

Ich erinnere mich an eine riesige Orchidee, die in einer großen Glasschale auf dem Fensterbrett oder Tisch stand, damit sie immer genug Feuchtigkeit hatte. Das sah sehr edel aus. An Deine Freude am Singen, an Deine Bücher und Romane. An den Spalierkirschbaum an Deinem Haus, von dem man selbst im ersten Stock Kirschen naschen konnte. An Dein kleines Pavillon im Garten, halb zugewachsen, ein Ort zum Lesen, Träumen und Feiern. Ich dachte, jeder Garten müsste so einen Ort haben.

Und ich erinnere mich an Deine Garage: rauer Putz, überwachsen von wildem Wein, beziehungsweise, er war eben nicht mehr dran: Überall die kleinen Pünktchen. Als Kind fuhr ich mit den Fingern über die kleinen Saugnäpfereste, bis Du sagtest: „Das mache ich nie wieder. Dieser Wein zerstört nur den Putz.“ Damals habe ich gelernt, dass es verschiedene Arten von wildem Wein gibt: Eben mit Haftscheiben oder Haftwurzeln. Fakt ist aber: Du wolltest schon früh Begrünung, irgendwie cool.

Ich erinnere mich auch an Deine Gedichte und Bücher. Du hast es geliebt, Verse zu schreiben: Eines Deiner Lieblingswörter war das kleine Wörtchen recht. Nicht im Sinne von Recht und Unrecht, sondern im Sinne vom verniedlichenden „recht zierlich“, „recht kräftig“. Deine Dichtkunst hat jede Familienfeier begleitet, manchmal verbunden mit einer Spur Selbstdarstellung. Vielleicht war es auch Dein Weg, Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen, die Dir durch die vielen Kinder, die Du Dir gewünscht hast, verwehrt blieb.

Du warst großzügig und trotzdem sehr klar darin, was geht und was nicht geht. Wenn ich an Dich denke, denke ich nicht an ein weinerliches Mütterchen oder an ein vergessenes Frauenzimmer. Die Butter wurde Dir sicher nicht vom Brot genommen!

Nun bist Du mit 99 Jahren auf eine Reise gegangen, der wir alle folgen werden.


Leben ist Teil des Kreislaufs

So wie nun meine Schwedenreise endet, endet auch ein Leben. Beides erinnert mich daran, wie sehr alles ein Abschied ist und wie wichtig es ist, in der Zwischenzeit zu träumen, zu leben, zu gestalten. Alles ist endlich. Wir verdrängen den Tod, so wie wir die Schmerzen der Geburt schnell vergessen. Doch jedes Leben endet. Die Häuser werden geräumt, Dinge verteilt, verschenkt oder entsorgt.

Im Garten begegnet mir täglich der Kreislauf von Werden und Vergehen. Pflanzen keimen, blühen, sterben ab und gehen zurück in den Boden. Auch wir Menschen sind Teil dieses Kreislaufs: ob als Urne, Grab, Waldbestattung oder Seebestattung. Und irgendwie gehen wir damit skurril um.

Abschied und Neubeginn

Und die Frage bleibt:

Sollen wir aufhören zu träumen, weil wir wissen, dass wir sterben?

Oder sollen wir gerade deshalb unser Leben leben mit all den Menschen, Orten und Möglichkeiten, die uns begegnen?

Wann ist es genug?

Wann ist es genau richtig und wenn ja, für wen?

Ein Garten voller Erinnerungen

Den Garten meiner Großtante hatte ich komplett vergessen, als ich über die Gärten meiner Großmutter und meines Großvaters schrieb. Aber auch hier geht es mir auf: Garten trägt Erinnerungen. Ein Spalierkirschbaum, ein Pavillon, Orchideen oder wilder Wein. Sie alle sind Pflanzen und gleichzeitig Symbole, Geschichten, Spuren von Leben.

Vielleicht ist es das, das Lebent: dass wir uns in Pflanzen, Orten und Erinnerungen wiederfinden.

Warum jetzt der richtige Zeitpunkt ist

Ich hätte diesen Brief früher schreiben können. Ich hätte überhaupt mehr schreiben können. Ich hätte öfter den Kontakt suchen, mehr auf Familienfeiern sein können. Hätte, hätte, Fahrradkette: Ich habe es nicht getan. Und jetzt ist der Moment, an dem ich diesen Brief schreibe, von mir an Dich. Und er fühlt sich richtig an.

Vielleicht erreicht er Dich nicht mehr. Vielleicht sind es nur Worte in die Leere. Aber während ich schreibe, merke ich, wie sehr wir uns in unserer Gesellschaft schwertun mit dem Thema Tod.

Tod ist ein Tabu. Krankheit, Sterben, Endlichkeit, … all das schieben wir beiseite. Müll wird in Säcke verpackt, kranke Körper sollen bitte repariert werden, damit sie wieder funktionieren. Und wenn das nicht mehr möglich ist, haben wir damit nichts mehr zu tun.

Güte, Wohlwollen, Mitgefühl haben in unserer Gesellschaft oft keinen festen Platz. Wir urteilen hart, mit anderen und mit uns selbst. Vielleicht ist gerade deshalb dieser Brief im Nachhinein nicht zu spät, sondern genau jetzt am richtigen Ort.

Vielleicht geht es genau darum: dass wir in jedem Garten, in jeder Erinnerung und in jedem Abschied ein Stück Leben wiederfinden. Und dass wir, solange wir hier sind, immer wieder neu entscheiden können, wie wir unser Leben füllen: mit Menschen, Träumen und Geschichten, die unser Leben wiederspiegeln.

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2 Antworten

  1. Das Thema Werden und Vergehen, den Kreislauf des Lebens so schön in Worte gefasst!
    Besonders der Brief hat mich berührt, wie du deine Großtante beschreibst, ein sehr lebendiger, wertschätzender Nachruf.
    Danke fürs Teilen.

    1. Danke Dir. Der Kreislauf hört halt nie auf. Nur denken wir darüber so selten nach. Beziehungsweise: Nachdenken vielleicht schon, nur fühlen wir es nicht, weil andere Sachen spannender sind.
      Ich war überrascht, wie viele Gartenbilder ich auf einmal im Kopf hatte, als ich an sie dachte.

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