Der Zauber von Brachen in der Stadt

Philharmonie Berlin bei Nacht
verheißungsvoll

Brachen in der Stadt. Berlin. Bitterkalt. Der Wind zog schneidend über den Potsdamer Platz, aus dem dunklen Tiergarten zu den beleuchteten Fassaden. Gold in der Dunkelheit: Die Philharmonie. Bei ihrem Anblick geht mir das Herz auf! Sie steht in der Nacht wie ein wärmendes Versprechen.

Ich bin allerdings auf dem Weg zur Matthäikirche, zu einer Veranstaltung des Kulturforums Berlin. Gezeigt wird ein Dokumentarfilm über Brachflächen in der Stadt, mit anschließendem Gespräch mit der Geographin Sandra Jasper und dem Landschaftsarchitekten Thilo Folkerts.

Zu sehen gibt es den Film Natura Urbana von Matthew Gandy.

Auf dem Weg in die Kirche

Bäume in Berlin
Bäume in Berlin

Schon auf dem Hinweg bleibt mein Blick an etwas anderem hängen: Bäume in riesigen Tuppen. Sie stehen mitten in der zugepflasterten Fläche. Ein Experiment? Eine Idee für mehr Grün in der Stadt? An Arboretum in der Stadt? Ich nehme es als Randnotiz mit und betrete die Kirche.

In der Kirche

Die Kirche ist hell, ruhig, fast karg – aber nicht leer. Die hellen Holzbänke stehen in Reihen, geordnet und ein wenig verloren in der weißen Kirche. Keine überladene Pracht, keine goldenen Verzierungen. Stattdessen eine Klarheit, die den Gedanken Raum gibt. Vorne eine Leinwand, daneben Lautsprecher, eine Skulptur aus Furnierholz. Der Raum wirkt irgendwie abstrakt, eine Ahnung von früher schleicht sich ein. Die Bänke sind bereits gut gefüllt.

Während ich dort stehe und ankomme, denke ich an all die Menschen, die hier schon gesessen, nachgedacht, gebetet, zugehört haben und es noch tun werden. Ich bin nur eine Besucherin von vielen. Für uns gibt es zur Feier des Tages ein Glas Rotwein – die intensive Prüfung in Ökonomie und Forstpolitik hat meinen Kopf erschöpft.

Matthäikirche mit Holzkunst: Eine Funierholzschlange
Kunst in der Kirche

Der Film

Der Film führt mich zurück in ein Berlin, das ich aus meiner Kindheit kenne. Die Bilder sind unaufgeregt, geben Zeit zum Hineinfühlen. Sachlich und doch künstlerisch. Ein Berlin mit Mauer. Mit Bürgerinitiativen. Mit Fragen. Mit Ideen, Ambitionen, Bezestung, Geschichte. Mit hitzeflirrenden Brachen, die kein Fußballplatz waren, keine gepflegten Parks, auf denen definitiv nicht barfuß gelaufen werden konnte. Menschen in Besetzungshäusern, verrotteten S-Bahnbrücken – Relikt aus einer Zeit vor der Trennung.

Brachflächen waren immer da. Sie sind Orte des Übergangs, Flächen, die warten und gleichzeitig sind. Die durch zum Teil entsetzliche Geschichte entstanden sind. Die Brachen in der Stadt sind völlig wertfrei. Wird gewartet? Muss etwas unternommen werden? Die Brachflächen sind und entwickeln sich. Einfach so. Die Natur hat längst eine Antwort darauf gefunden: Heimische Pflanzen und Neophyten erobern den Raum. Im alten Westberlin zum Teil anders als im Ostteil der Stadt. Pflanzen, die nicht immer heimisch sind, aber sich anpassen, die wachsen, wo niemand sonst wachsen möchte: Adventivpflanzen. Nach der Maueröffnung auf einmal überall Kaninchen waren. Ich erinnere mich. Bei den Interviews habe ich das Gefühl mit dabei zu sein – und hätte noch so viele Ideen und Fragen. Lass uns doch gerne weiter reden!

Zwei Rotweingläser in der Kirche
Angekommen in der Kirche

Brachen in der Stadt

Ich bin erschüttert über meine eigene Blindheit. Na klar! Es gab und gibt zu jeder Zeit Menschen, die sich mit diesen Flächen beschäftigen – mit Stadtökologie, mit Politik, mit Kunst, mit Geschichte. Vielleicht ist das immer so: Es gibt diejenigen, die beobachten, dokumentieren, versuchen zu verstehen. Und dann gibt es diejenigen, die einfach gehen, ohne hinzusehen.

Der Film zeigt: Brachen in der Stadt sind keine Lücken im Stadtbild, sondern Orte der Möglichkeiten. Sie sind nicht leer, sondern voller Entwicklung. Hier entsteht Neues, manchmal geplant, oft spontan. Mit Menschen, mit Pflanzen, mit Kultur. Und sie sind zum Anfangsstadium unglaublich artenreich!

Ein Bild behalte ich im Herzen: Der Teufelsberg noch als reiner Schuttberg ohne schattenspendenden Bäumen. Eine Geröllhalde mit einer Vielzahl verschiedener Ruderal- und alpinen pflanzen. Ein normaler Weise an den Küsten beheimatetes Salzkraut wird vom Wind über die Steine gerollt. Und das mitten in Berlin! (In dem Trailer ist das Bild auch zu sehen.)

Wie toll, das das dokumentiert wurde, dass es Menschen gab, die mit einem Blick auf die Ökologie und die Pflanzen Fotos gemacht haben! Damals waren es noch Dias.

Was ist eigentlich eine Brache?

Das Wort Brachen kommt eigentlich aus der Landwirtschaft. Es sind ungenutzte (als unbestellte) Flächen. So weit aus der Landwirtschaft. In Berlin werden keine Äcker offen gelassen. Hier sind die Brachen Schuttberge nach der Krieg, verwahrloste Parkplätze ohne designte Gestaltung. Ohne ausgeschriebenes Konzept. Ohne Preisgeld.

Brachen in der Stadt werden oft als „ungepflegt“ oder „nutzlos“ abgetan – doch sie sind keineswegs bloßer Wildwuchs. Gerade in Städten bieten sie eine enorme ökologische Vielfalt, vergleichbar mit Trockenmagerrasen, die wiederum oft als besonders schützenswerte Biotope gelten. Der Unterschied? Brachen entstehen spontan und verschwinden wieder im Zuge des Städtebaus, Trockenmagerrasen sind oft gezielt geschützt.

Brachen in der Stadt – Magerrasen vs. Brachen

Während Magerrasen als erhaltenswert gelten, weil sie seltene Pflanzen- und Insektenarten beherbergen, werden Brachen oft „aufgeräumt“. Dabei können sie ein ebenso wertvoller Lebensraum sein – wenn man sie lässt. Der entscheidende Unterschied liegt in der Wahrnehmung: Das eine ist „naturschutzwürdig“, das andere „ungepflegt“.

Doch wer entscheidet, was bleiben darf? Und wie oft wird wertvolle Natur weggemäht, weil sie nicht in unser Bild von „richtiger“ Landschaftspflege passt? Brachen sind ungezähmte Ökosysteme – voller Dynamik, Wandel und Überraschung. Sie gehören genauso zum Stadtbild wie der gepflegte Magerrasen in Schutzgebieten.

Diese ungenutzten Flächen haben einen Wert und werden immer weniger in der Stadt. In anderen Großstädten kennt man sie kaum: Lücken mit Schutt im Stadtbild – wo kämen wir denn da hin?

Politische Pflanzen

Eine Interviewstelle beschäftigt mich: Wer entscheidet eigentlich, was bleiben darf? Was “heimisch” ist? Was „erwünscht“ ist? Wir reden so oft über heimische Pflanzen – und ich ja eigentlich auch. Aber dann gibt es auch die Neuankömmlinge. Pflanzen, die sich ansiedeln. Manchmal unauffällig, manchmal dominant. Und plötzlich sind sie “invasiv”. Wir wollen sie nicht. Ein bisschen, wie es mit Menschen manchmal läuft. Gerade jetzt, in dieser politischen Landschaft, wo so viel gewettert wird.

Wir vergessen schnell: Die meisten Neuankömmlinge passen sich an. Viele bereichern das Bild, sind Grundlage unseres bunten Lebens. Und manche – ja, manche übernehmen. Aber ist Wegschauen die richtige Antwort?

Funierholzschlange
verworren und doch eins

Zwischen Früher und Heute

Was früher Schuttberge und Mauerstreifen waren ist jetzt das Tempelhofer Feld – Brachen in der Stadt par excellance. Eine Fläche, die für viele einfach „frei“ aussieht, für andere aber voller Leben steckt. Menschen, die dort spazieren, Drachen steigen lassen, wilde Pflanzen, die sich ausbreiten, Tiere, die ihren Platz gefunden haben. Es wird auch jetzt dokumentiert, geforscht. Ich fahre im Sommer sehr gerne hier hin zum Lindy Hop, Balboa oder Blues tanzen. Seit dem Volksentscheid 2014 galt: Keine Bebauung. Jetzt gibt es neue Pläne – Investoren haben Ideen. Was könnte man dort nicht alles machen!

Nur ist da schon etwas: Da ist Stadtleben. Wildes, freies, nicht durchgeplantes Leben. Und jetzt? Wieder die Frage: Was ist uns eine Brache wert? Kann sie bleiben? Oder wird sie bebaut? Die Diskussion läuft – und wer das Tempelhofer Feld in seiner jetzigen Form erhalten will, kann sich hier beteiligen und es gerne teilen:

Hier geht’s zum offenen Brief und zur Unterschriftenliste.

Ich bin gespannt auf die Entwicklung. Der Ausbau der Westtangente der Autobahn wurde seinerzeit durch eine aktive Bürgerinitiative gestoppt.

Die Brache in uns selbst

Es wird noch weiter diskutiert und philosophiert. Mein Kopf ist voll und braucht jetzt Ruhe. Auf dem Rückweg frage ich mich: Wer bin ich eigentlich? Kann man einen Menschen auf Ausbildung, Geschlecht, Herkunft oder Funktion reduzieren?

Wir reden oft von Selbstverwirklichung, von Plänen, von Effizienz. Wir setzen uns Ziele, optimieren Routinen, arbeiten an uns selbst. Aber was, wenn das nicht alles ist? Was, wenn die Pausen, die Zwischenräume, die Unklarheiten mindestens genauso wertvoll sind?

Vielleicht haben wir alle Brachen in uns. Orte, die nicht sofort erblühen. Die nicht in Schubladen passen. Die warten, bis ihre Zeit kommt. Brachen sind nicht ungenutzt – sie haben ihren eigenen Wert.

Die Stadt ist voller Brachen. Zwischenräume zwischen Gebäuden, wo niemand hinsieht. Manchmal sind sie Rohboden für Neues. Manchmal einfach nur da. Ein Kommen und Gehen. Das gilt für Menschen, Tiere und Pflanzen. So ist es auch in uns. Es gibt Zeiten, in denen wir klar definiert sind: Gärtnerin, Mutter, Freundin, Studentin. Und dann gibt es die Brachen – Zeiten des Übergangs, des Suchens, des Nichtwissens.

Nicht alles kann bleiben. Nicht jede Brachfläche in der Stadt, nicht jede unberührte Landschaft, nicht jede Phase unseres Lebens. Wir können nicht alles erhalten – nicht jeden Baum, nicht jede Erinnerung, nicht jeden Moment.

Die Frage ist immer: Was sind wir bereit, zu bewahren? Wie viel Aufwand ist es uns wert? Wie viel Energie, wie viel Geld, wie viel Zeit?

Brachen in uns selbst sind wichtig. Weil nicht jeder Weg gerade verläuft. Weil nicht alles sofort Nutzen haben muss. Weil wir nicht nur aus Rollen bestehen.

ohne Optimierung

Vielleicht hat jeder Mensch eigene Brachen. Ungeplante Räume. Orte des Übergangs. Vielleicht ist es gut, dass sie existieren. Sie sind nicht leer, sondern warten darauf, sich zu entwickeln. Sie gehören dazu – und sie sind vielfältiger, als wir oft denken.

Ich bin Gunhild, Kind aus dem Wedding. Nicht reduzierbar auf den Beruf Gärtnerin. Nicht reduzierbar auf Zertifikate in Ordnern. Nicht reduzierbar auf die Funktion der Mutter, der Freundin, der Frau, der Studentin, der Bloggerin, der Tänzerin, der Naturverbundenen, der Tochter, der Kursgeberin.

Ich bin Gunhild und einfach da und Berlin ist nie fertig.

P.S.: Die Bäume in den Tuppen sind übrigens eine Installation der Baumschule Kulturforum. Das gefällt mir sehr: Mehr Natur in der Stadt!

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